Historiker Reinhold Weitz referierte über die soziale Frage vor dem Ersten WeltkriegKUCHENHEIM. Sie prägten um 1900 die Silhouette der Stadt: die hohen Schornsteine der rund 20 Tuchfabriken in Euskirchen. Die Kreisstadt und ihre Umgebung waren eine Hochburg der Streichgarn- und Uniformproduktion. Zwischen 1952 und 1982 mussten aufgrund der Konkurrenzsituation letztlich alle Tuchfabriken in der Region schließen – als letztes die Fabrik Ruhr-Lückerath zwischen Euskirchen und Euenheim. Vorbei die Zeiten, als die Industrie Anfang des 20. Jahrhundert in Euskirchen eine wichtige Rolle spielte. "1915 lebten in Euskirchen gut 15 000 Menschen. 3000 von ihnen arbeiteten damals in der ansässigen Industrie", so der Historiker Dr. Reinhold Weitz. Er beschäftigte sich in den vergangenen Wochen und Monaten mit der "Euskirchener Arbeiterschaft und der sozialen Frage vor dem Ersten Weltkrieg". Der ehemalige Geschichtslehrer wälzte zahlreiche Akten und durchstöberte das Kreis- und Stadtarchiv. Nun hielt der Geschichtsexperte einen Vortrag im Schatten der ehemaligen Tuchfabrik in Kuchenheim – viel besser hätte er den Ort nicht wählen können.Es sei aber falsch die Industrie der Kreisstadt zur damaligen Zeit auf die Tuchindustrie zu reduzieren. "Es gab auch nicht das typische Arbeiterviertel", so Weitz: "Die Arbeiter lebten über das gesamte Stadtgebiet verteilt." Ihr Verdienst sei auch nicht so schlecht gewesen, wie gemeinhin angenommen werde. Bei seinen Recherchen fand Weitz heraus, dass ein Arbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts in Euskirchen und Umgebung gut 1100 Goldmark Jahresverdienst hatte. "Ein Studienrat verdiente ungefähr das doppelte", so Weitz, der viele alte Artikel für seine Recherche in der "Euskirchener Volkszeitung" gefunden hatte. Die Tuchmacher waren es, die 1905 zum ersten Streik in Euskirchen aufriefen. Einer Angestellten in der Tuchfabrik "Jakob Weber und Söhne" wurde damals unbegründet gekündigt. Im Mai 1905 einigte sich der Fabrikbesitzer aber noch schnell mit den Angestellten. Die Arbeitsniederlegung war von kurzer Dauer.Das war ein Jahr später anders. Für mehrere Wochen streikten 873 Tuchmacher. Die Gründe: die Kündigung eines Arbeiters, der nicht korrekt gearbeitet haben soll, und der ihrer Meinung nach zu niedrige Lohn. Laut Weitz hatte das "unangenehme Folgen für die Kreisstadt." Die Arbeitgeber lockten gar Arbeiter aus Aachen nach Euskirchen, doch der Schuss ging nach hinten los: Diese solidarisierten sich mit den Euskirchener Kollegen. Erst im Oktober gingen die Arbeiter wieder an die Webstühle und Spinnmaschinen. Der Streik hatte laut Weitz Erfolg: "Es gab eine Lohnerhöhung und Zusatzleistungen. Die Weber erhielten 1,5 Pfennig mehr pro 1000 Schuss."Die SPD habe zu dieser Zeit keinen leichten Stand in Euskirchen gehabt. "In der Anfangszeit war die Mitgliedschaft zwar legal, aber die Mitglieder waren nicht unbedingt gleichberechtigt", sagte Weitz. So hätten Mitglieder zuweilen unter polizeilicher Beobachtung gestanden.